Altenhilfe | Sonderausgabe
Viele Einrichtungen der Sozialwirtschaft befinden sich in einer akuten Existenzkrise
Corona, Fachkräftemangel, Einführung Tariflohn, Inflation, höhere Mieten und Preisexplosion bei Strom- und Heizkosten
Ausgangslage
Die wirtschaftliche Lage deutscher Pflegeheime hat sich in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Rund 20 Prozent lagen bereits im Jahr 2019 im „roten Bereich“ mit erhöhter Insolvenzgefahr, gut 26 Prozent schrieben einen Jahresverlust. Zu diesem Ergebnis kam bereits der „Pflegeheim Rating Report 2022“. Demnach stand bereits im Jahr 2021 jedes fünfte Pflegeheim in Deutschland kurz vor der Insolvenz.
Kostenerhöhungen 2022/2023
- Preisexplosion bei Strom, Gas, Öl und Fernwärme
- Wegfall des Corona-Rettungsschirm seit 01.07.2022
- Tariflohnpflicht ab 01.09.2022 für alle Pflegeeinrichtungen
- Fachkräftemangel und geringe Auslastungsquoten
- Sachkostensteigerungen 2022 werden oft nicht refinanziert
- Anstieg der Pachtkosten um bis zu 10 % im Jahr 2022
- Tariferhöhungen TVÖD ab 01.01.2023
I. Preisexplosion bei Strom, Gas, Öl und Fernwärme
Derzeit kämpfen viele Einrichtungen noch mit den nicht refinanzierten Kosten der Tariflohnpflicht und den Sachkostensteigerungen. Insbesondere bei Strom, Gas, Öl und Fernwärme steht eine noch nie dagewesene Preisexplosion vor der Tür.
Nicht alle sind gleich betroffen:
Für alle Träger wird es deutliche Erhöhungen vor allem im Energiepreissektor geben, wobei diese für manche etwas weniger drastisch ausfallen werden als für andere Träger. Viele Träger haben und hatten noch Preise bei Gas von 1,9 bis 5,5 ct/kWh und bei Strom von 4–5,5 ct/kWh. Zu diesen Preisen kommen natürlich noch die gesetzlichen Umlagen, Netzentgelte und Steuern hinzu.
Derzeit liegt der Gaspreis bei ca. 32 ct/kWh (+500 %) und der Strompreis bei über 100 ct/kWh (+1.700 %) an der Börse (Stand 29.08.2022 siehe Anlage).
Wir betrachten anhand von uns vorliegenden realen Angeboten die Auswirkungen der Erhöhungen von drei verschiedenen Fällen auf eine Einrichtung mit 100 Plätzen:
- Weiterhin feste Lieferverträge für Gas und Strom (Erhöhung der Preise durch die neu eingeführte Gasumlage)
- Weiterhin fester Stromliefervertrag, aber neuer Gasliefervertrag ab 01.01.2023
- Neuer Strom- und neuer Gasliefervertrag ab 01.01.2023
Wir haben hierbei folgende Basisdaten unterstellt:
Hierbei muss erwähnt werden, dass die oben unterstellten Preise ab 01.01.2023 wieder überholt sein und weit höher liegen können bzw. werden.
Die Absenkung der Umsatzsteuer bei Gas auf 7 % ist hierbei berücksichtigt.
Ergebnis
- Im Beispiel oben steigt der Gaspreis nur durch die Gasumlage um knapp 50 % und belastet die Einrichtung mit 0,70 € pro Tag und Bewohner.
- Steigt zusätzlich der Gaspreis zum 01.01.2023 wie oben dargestellt, beträgt die Erhöhung bereits 8,03 € pro Tag und Bewohner.
- Erhöhen sich Strom- und Gaspreis zum 01.01.2023 wie oben dargestellt, liegt die Erhöhung bei fast 12,00 € pro Tag.
Beispiele (reale Zahlen): Vergleich vereinbarte Kosten Pflegesatz mit IST-Kosten ab 01.01.2023
Fazit - Die möglichen Erhöhungen der Energiekosten bei den Einrichtungen liegen bei 300 bis 500 Euro pro Bewohner im Monat. - Das sind zusätzliche Aufwendungen bei einer 100-Betten-Einrichtung von 300.000 bis 500.000 Euro pro Jahr. |
Empfehlung Folgende Unterlagen sollten vor der Pflegesatzerstellung überprüft werden und zur Verfügung stehen: - Verbrauchsdaten für Strom und Heizung - Lieferverträge für Strom und Gas oder Fernwärme - Ankündigungsschreibung für Gasumlage zum 01.10.2022 - Neue Konditionen für Strom und Gas oder Fernwärme bei Auslaufen fester Preisbindungen |
II. Tariferhöhungen ab 01.01.2023
Im Tarif des TVÖD steht zum 01.01.2023 ein neuer Tarifabschluss an, in welchem mit Steigerungen der Gehälter zu rechnen ist. Diese Tariferhöhungen müssen zwingend refinanziert werden. Schaut man auf bereits getätigte Tarifabschlüsse liegen durchaus Erhöhungen von 6 — 8 % im Bereich des Möglichen. In Pflegesatzverhandlungen werden derzeit 3,5 % Erhöhung ab 01.01.2023 angeboten. Es muss zwingend sichergestellt werden, dass die Differenz spätestens in der nächsten Pflegesatzverhandlung zusätzlich refinanziert wird. Da die nicht im Pflegesatz eingerechnete Differenz aber durchaus existenzbedrohend für manche Einrichtung werden kann (siehe auch Berechnungen im Bayernletter August 2022), muss es den Betreibern möglich sein, von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch zu machen, sollte der Tarifabschluss deutlich über den angebotenen und vereinbarten Werten liegen.
III. Tariflohnpflicht ab 01.09.2022 für alle Pflegeeinrichtungen
Die Tariflohnpflicht hat die Politik im Jahr 2021 beschlossen und nun wundern sich dennoch viele, dass die Heimkosten massiv steigen.
Zum Problem wird die Tarifplicht für Träger von Pflegeheimen, die bisher nicht tarifgebunden waren. Viele Betreiber können noch nicht einmal die tatsächlichen Tarifkosten, die nun zum 01.09.2022 zur Pflicht wurden, in Pflegesatzverhandlungen erreichen.
Fazit - Die bisher durch Preisverhandlungen refinanzierten Kosten für Overhead und Verwaltung sind seit 01.09.2022 weggefallen. - Zusätzlich können z.T. die tatsächlichen Tarifkosten nicht refinanziert werden. |
IV. Sachkostensteigerungen
Trotz Erbringung von Nachweisen werden derzeit Sachkostensteigerungen in den Pflegesatzverhandlungen nicht anerkannt.
Die Kostenträger treten hier als „Sachwalter“ der Bewohner auf und agieren immer noch mit Zahlen eines externen Vergleichs, bei dem die derzeitigen Kostensteigerungen noch gar nicht berücksichtigt wurden.
Auch nach Prüfung der Nachweise werden die neuen Kosten mit den veralteten Kosten vergangener Abschlüsse verglichen und als unwirtschaftlich abgelehnt.
V. Erhöhung der Investitionskosten
Im Bundesvergleich sind die Investitionskosten um 12 % unter dem Durchschnitt!
Ein Grund der sehr niedrigen Investitionskosten liegt an der bisher sehr restriktiven Handhabe der Kostenträger (bis auf wenige Ausnahmen), die die tatsächlichen Pachtkosten bei nicht geförderten Einrichtungen für Sozialhilfeempfänger nicht anerkennen.
Erhöhung der Mieten
Die Miet- und Pachtkosten einer Pflegeimmobilie sind meist inflationsgesichert an den Verbraucherpreisindex gekoppelt. Wenn die Verbraucherpreise über eine bestimmte Grenze – beispielsweise zehn Prozent im Vergleich zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses – steigen, wird die Miete angepasst.
Dann allerdings entsprechend zum kumulierten Anstieg der Indexsteigerung. So kann es passieren, dass die Miete auf einen Schlag um fünf oder gar zehn Prozent steigt.
Fazit - Durch die Inflationsrate von 8 % im Jahr 2022 gibt es nun bei fast allen Pachtmodellen erhebliche Erhöhungen der Miet- und Pachtkosten. - Das Defizit aus tatsächlichen und refinanzierten Pachtkosten wird somit noch weiter ansteigen |
VI. Personalmangel, Corona und Rettungsschirm
Durch Corona hat sich der Personalmangel weiter verschärft. Neben den Fachkräften sind nun auch Pflegehilfskräfte, Reinigungs- und Küchenkräfte kaum noch zu finden.
Fremdreinigungsfirmen mussten die Preise massiv anheben, um in Zukunft ausreichend Personal halten zu können. Die Wäschereien haben ebenfalls massiv die Preise erhöht, da neben den Personalkosten, auch die Energiekosten drastisch gestiegen sind.
Problematisch ist die weiterhin sehr niedrige Auslastung vieler Pflegeheime, während die Kostenträger weiterhin wie vor 25 Jahren von einer Auslastung von 97,26% ausgehen.
Eine Anpassung dieser rechnerischen Auslastungsquote in den Pflegesätzen wäre dringend notwendig, um kostendeckende Pflegesätze erzielen zu können.
Auch die Zusatzkosten Corona werden seit 01.07.2022 durch den Wegfall des Rettungsschirms nicht mehr erstattet.
VII. Zuschlag für Wagnis und Risiko
Wäre eine angemessene Vergütung für das Unternehmerrisiko nicht bereits vom Gesetzgeber im § 84 Abs. 2 SGB XI beschlossen worden, müsste diese nach den Turbulenzen der letzten zwei Jahre gefordert werden.
Leider wird dieser Rechtsanspruch den Pflegeheimträgern immer noch unzureichend gewährt.
- Die Argumentation der Kostenträger, dass allgemeine Unternehmensrisiken nicht zu berücksichtigen sind, steht so nicht im Gesetz und muss revidiert werden.
- Die Behauptung, dass es für Sachkosten keine Unternehmensrisiken gäbe, ist leider durch die eingetretenen Verwerfungen auf allen Märkten widerlegt worden.
- Wagnisse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht planbar sind und daher
vom Pflegeheim kaum konkret dargelegt werden können.
Fazit und Empfehlung - Im Lichte der nun bekannten Risiken wie z. B. durch Lieferkettenprobleme, Energie- und Sachkosten, Arbeitskräftemangel, sowie hoher Krankenstand muss die vom Gesetzgeber geforderte angemessene Vergütung für das Unternehmerrisiko bei den Vergütungsverhandlungen völlig neu bewertet werden. - Die Einrichtungen sollten eine angemessene Vergütung für das Unternehmerrisiko wie in § 82 Abs. 2 SGB XI vorgesehen beim nächsten Pflegesatzantrag geltend machen. |
Entlastungspakete der Bundesregierung — Pflegebedürftige in Einrichtungen werden vergessen
Tariferhöhungen, steigende Energiepreise und Inflation setzen die Pflegeheime finanziell enorm unter Druck. Es drohen massive Erhöhungen des Eigenanteils für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen.
Dem Bewohner im Pflegeheim hilft weder Tankrabatt noch 9‑Euro-Ticket und Energiepreispauschale. Pflegebedürftige müssen vor einem drastischen Anstieg des Eigenanteils geschützt werden, sonst rutschen sie massenhaft in die Sozialhilfe.
Die fehlende finanzielle Unterstützung seitens der Politik, darf nicht auf Kosten der Pflegeheimbetreiber gehen.
Pflegeeinrichtungen müssen die Preissteigerungen an die Bewohner weitergeben und diese Steigerungen auch refinanziert bekommen.
Ausblick
Fokus der Politik und Pflegekassen liegt immer noch einseitig auf dem Bewohner
Die Politik hat die Gaspreisumlage zum 01.10.2022 und die Tariflohnpflicht zum 01.09.2022 eingeführt. Nun sind viele Politiker wegen der massiv gestiegenen Heimkosten besorgt.
Es wird immer schwieriger, die Gestehungskosten zu refinanzieren. Ein sogenannter externer Vergleich wird von den Kostenträgen herangezogen, um die tatsächlichen Kostensteigerungen der einzelnen Pflegeeinrichtungen abzulehnen. Nur, im „externen“ Vergleich sind ja gar nicht die derzeitigen und schon gar nicht die zukünftigen Sachkostensteigerungen enthalten.
Die dargestellten schwierigen und existenzbedrohenden Einflüsse sind für viele Träger nicht beherrschbar!
Oft werden die Einrichtungen von der Politik und den Kostenträgern im Regen stehen gelassen.
Wir sehen die Gefahr, dass unter den oben skizierten Rahmenbedingungen im Jahr 2023 erheblich mehr Einrichtungen in Bayern vor der Insolvenz stehen könnten, als noch im „Pflegeheim Rating Report 2022“ angenommen.
Bereits jetzt kann der Sicherstellungsauftrag nach § 69 SGB XI in der ambulanten Pflege nicht mehr eingehalten werden (siehe Anlage 1). Das gleiche Problem droht nun in der vollstationären Pflege. Die Pflegekassen haben jedoch die Aufgabe, flächendeckend durch eine hinreichende Anzahl von Leistungsanbietern eine ausreichende Versorgung der Versicherten sicherzustellen.
BMG Sonderkündigungsrecht nach § 85 Abs. 7 SGB XI
Herr Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hatte die steigenden Kosten insbesondere in den Bereichen Energie und Nahrungsmittel zum Anlass für ein Schreiben an den GKV-Spitzenverband genommen.
In diesem Schreiben hatte er den GKV-Spitzenverband für den Bereich der Langzeitpflege gebeten, die Landesverbände der Pflegekassen auf die Anwendung der bestehenden Möglichkeiten hinsichtlich der Vergütungsverhandlungen im Recht der Pflegeversicherung aufmerksam zu machen.
Er hat in diesem Zusammenhang auf das gesetzliche Instrumentarium des § 85 Abs. 7 SGB XI hingewiesen.
Auszug aus dem Schreiben des BMG
[…] Eine Neuvereinbarung ist möglich auf Verlangen einer Vertragspartei bei unvorhersehbaren wesentlichen Veränderungen der Annahmen, die der Vereinbarung oder Festsetzung der Pflegevergütungen zugrunde lagen und entsprechend nicht einbezogen wurden (§ 85 Absatz 7 […] SGB XI). Damit haben die Vertragsparteien die Flexibilität, um auch kurzfristig auf vormals nicht abzusehende Steigerungen der Personal- und Sachaufwendungen durch den Abschluss neu angepasster, prospektiver Vergütungsvereinbarungen zu reagieren. |
Empfehlung Einrichtungen, die nun erhebliche Kostensteigerungen im Bereich Energie haben, sollten eine Neuverhandlung wie vom BMG empfohlen als Ultima Ratio prüfen. |
Haben Sie Fragen? Dann wenden Sie sich bitte an Herrn Hubert Braun per E‑Mail unter
Hubert.Braun@schwan-partner.de oder rufen Sie an unter 089 665191–0.
Sie können diesen Bayernletter hier als pdf-Datei herunterladen.